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Richterliches Unterlagenbeiziehungsrecht im OH-Verfahren

OLG Köln, Beschluss vom 20.04.2020 – 5 W 5/20

Leitsätze der Bearbeiter:

1. Die Frage, ob der Erstrichter im OH-Verfahren ein eigenes Beiziehungsermessen hinsichtlich der vom Antragsteller begehrten Patientenunterlagen hat, ist strikt von der Frage zu trennen, ob dem Antragsteller gegen die erfolgte richterliche Ablehnung einer begehrten Anordnung nach § 142 ZPO ein Rechtsmittels zusteht.

2. Der BGH hat mit seiner Grundsatzentscheidung BGH VersR 2017, 908 die Möglichkeit der Ausübung richterlichen Ermessens im Hinblick auf die Beiziehung von Behandlungsunterlagen im OH-Verfahren bejaht. Eine Verpflichtung des Erstgerichts zur gerichtlichen Beiziehung besteht aber grundsätzlich nicht.

3. Die Vorschrift des § 421 ZPO, welche die Beweisaufnahme durch Urkunden regelt, gilt in OH-Verfahren nach § 485 Abs. 2 ZPO nicht.

4. Eine sofortige Beschwerde gegen die im OH-Verfahren erfolgte richterliche Ablehnung einer begehrten Anordnung nach § 142 ZPO ist (mit Blick auf § 492 Abs. 1 ZPO) in der Regel nicht statthaft. Auch das Begehr einer Datenauskunft nach Art. 15 DS-GVO über den Weg der Regelung des § 142 ZPO führt zu keiner Ausnahme dieses Grundsatzes. Die generelle Unstatthaftigkeit der sofortigen Beschwerde führt zu keiner Verletzung der Verfahrensgrundrechte oder einer Verletzung von Europarecht.

5. Eine Beschwerdefähigkeit gegen die richterliche Ablehnung ist aber ausnahmsweise dann zu bejahen, wenn durch die getroffene Anordnung faktisch das Verfahren zum Stillstand gebracht wird (§ 252 ZPO direkt oder analog) oder die Grundrechte des Antragstellers verletzt werden. Sollten die eigenen Beiziehungsversuche des Antragstellers über § 630g BGB scheitern, käme das etwaige Beharren des Gerichts im Beweisverfahren auf die Vorlage der Behandlungsunterlagen durch den Antragsteller im Zweifel tatsächlich einer Verweigerung von Rechtsschutz im Rahmen des selbständigen Beweisverfahrens gleich. Für diesen Fall ist eine Beschwerde gegen die Anordnung analog § 252 ZPO statthaft, denn es wäre dem Antragsteller nicht zuzumuten, zunächst einen – womöglich über mehrere Instanzen laufenden – Rechtsstreit um die Herausgabe der Unterlagen zu führen.

Das selbständige Beweisverfahren kann häufig ein streitiges Verfahren vermeiden.
Das selbständige Beweisverfahren kann häufig ein streitiges Verfahren vermeiden.

Problemstellung

In der hier zu besprechenden Entscheidung vom 20.04.2020 (5 W 5/20) befasst sich der 5. Zivilsenat des OLG Köln (erneut) mit der noch immer höchst strittigen Rechtsfrage der richterlichen Beiziehung von Patientenunterlagen, mithin um die Anwendbarkeit der §§ 142, 144, 421 ff. ZPO im Arzthaftungsbeweisverfahren.

Der BGH hat sich hierzu bislang noch nicht erschöpfend positioniert. In seiner von den Instanzgerichten in OH-Verfahren vielfach zitierten Entscheidung vom 29.11.2016 (Az. VI ZB 23/16 = BGH VersR 2017, 908) lehnte der BGH lediglich die isolierte Anfechtbarkeit einer im Rahmen des selbständigen Beweisverfahrens ergangenen Ablehnung einer begehrten Anordnung nach § 142 ZPO ab. Er betonte jedoch zutreffend, dass das Gericht nach § 142 ZPO durchaus anordnen kann, dass eine Partei oder ein Dritter die in ihrem oder seinem Besitz befindlichen Urkunden und sonstigen Unterlagen, auf die sich eine Partei bezogen hat, vorlegt. Gleichwohl lehnen einige Instanzgerichte die Beiziehung ärztlicher Behandlungsunterlagen in OH-Verfahren unter Hinweis auf die BGH-Entscheidung vom 29.11.2016 grundsätzlich und ohne Prüfung des Einzelfalls kategorisch ab und verzichten damit gänzlich auf die Auseinandersetzung mit dem gebotenen Beiziehungsermessen (vgl. Fußnote 19 in der Anmerkung der Verfasser), was wohl mit dem Ansinnen des BGH nicht in Einklang zu bringen sein dürfte. Zahlreiche andere Ober- und Landgerichte hingegen ordnen in arzthaftungsrechtlichen Beweisverfahren die Vorlage der medizinischen Behandlungsunterlagen über § 142 ZPO regelmäßig an (vgl. Fußnote 10 in der Anmerkung der Verfasser).

Die vorgenannte BGH-Entscheidung lässt mithin noch Rechtsfragen offen, was zu uneinheitlichen Verhältnissen in der Rechtsanwendung führt.

Der Kölner Senat unterscheidet in der hier gegenständlichen Entscheidung vom 20.04.2020 zutreffend die Frage der Anfechtbarkeit der Ablehnung einer begehrten Anordnung nach § 142 ZPO von derjenigen der grundsätzlichen Anwendbarkeit der Vorschrift des § 142 ZPO im Rahmen des selbständigen Beweisverfahrens. Unter Bezugnahme auf die Entscheidung des BGH vom 29.11.2016 lehnt das OLG Köln in seinem Beschluss vom 20.04.2020 die Anfechtbarkeit eines Beschlusses, welcher die Ablehnung einer begehrten Anordnung nach § 142 ZPO im selbständigen Beweisverfahren zum Inhalt hat, ab und bejaht ausdrücklich die Möglichkeit der Ausübung richterlichen Ermessens im Hinblick auf die Beiziehung von Behandlungsunterlagen nach § 142 ZPO. Die Anwendbarkeit der Vorschrift des § 421 ZPO im selbständigen Beweisverfahren lehnt das OLG Köln hingegen ab und widerspricht damit der Auffassung des OLG Hamm mit Beschluss vom 09.07.2019, wonach im OH-Verfahren die gegnerische Behandlerseite jedenfalls über §§ 421 ff. ZPO zur Vorlage ihrer Krankenunterlagen verpflichtet sei (vgl. hierzu Graf/Johannes, MedR 2020, 26 mit Anm. zu OLG Hamm, Beschl. v. 09.07.2019, Az. I-26 W 8/19 = MedR 2020, 40). Der Kölner Senat vertritt damit eine insoweit vermittelnde Auffassung. Überdies setzt sich das OLG Köln mit der Frage der Statthaftigkeit der Beschwerde im Ausnahmefall aus einer analogen Anwendung der Vorschrift des § 252 ZPO in Verbindung mit § 567 Abs. 1 Nr. 1 ZPO auseinander.

Entscheidungsbesprechung

I) Praxisrelevanz

 

Die hier gegenständliche und noch immer höchst strittige Kernfrage der richterlichen Beiziehung von Behandlungsunterlagen im Rahmen eines Arzthaftungsbeweisverfahrens hat enorme Praxisrelevanz, zumal sich das OH-Verfahren aufgrund seiner nicht zu verkennenden Vorzüge gegenüber einem Klageverfahren gerade in Medizinschadensfällen in der Vergangenheit immer weiter etabliert hat1.

 

Im Arzthaftungsrecht sind grundsätzlich die ärztlichen Behandlungsunterlagen der in die Haftung genommenen Behandler und der Mitbehandler das „A und O“ für die gutachterliche und richterliche Beurteilung der Streitgegenstände. Greiner2stellt hierzu fest, dass der geschädigte Patient - trotz seines Anspruchs auf Einsicht in die Krankenunterlagen - gerade nicht verpflichtet sei, vorprozessual die Krankenunterlagen seinerseits beizuziehen und bei Einreichung der Klage dem Gericht zur Verfügung zu stellen; die Beiziehung von Krankenunterlagen sei nämlich Ausfluss der Prozessförderungspflicht des Gerichts. Zur effektiven prozessualen Ausgestaltung des speziellen zivilgerichtlichen Beweisverfahrens des § 485 Abs. 2 ZPO gehört indes - mit Blick auf die gesetzgeberische Intention3 - auch die direkte oder analoge Anwendung der Beiziehungsbefugnisse der §§ 142, 144, 421 ff. ZPO. Aus Sicht der Verfasser ist in jedem Arzthaftungsverfahren die richterliche Beiziehung (zur medizinischen Begutachtung erforderlicher (Original-)Unterlagen bzw. Gegenstände) stets geboten, insbesondere auch im OH-Verfahren.

 

II) Keine Statthaftigkeit der sofortigen Beschwerde nach § 567 Abs. 1 ZPO

 

Der BGH negiert in seiner Entscheidung vom 29.11.20164 die isolierte Anfechtbarkeit der richterlichen Ablehnung einer im Rahmen eines selbständigen Beweisverfahrens begehrten Anordnung nach § 142 ZPO mit der sofortigen Beschwerde nach § 567 Abs. 1 ZPO. Der Kölner Senat folgt in seiner aktuellen Entscheidung vom 20.04.2020 der Auffassung und Argumentation des BGH.5 Auch der Umstand, dass der Antragsteller in dem zugrundeliegenden Fall im Wege des § 142 ZPO die Durchsetzung einer Datenauskunft nach Art. 15 DS-GVO begehrt, ändere - so das OLG Köln - am Ergebnis der Unzulässigkeit einer isolierten Beschwerde gegen die Ablehnung einer Anordnung nach § 142 ZPO nichts.6 Denn der mit den Regelungen in der DS-GVO intendierte Datenschutz dürfte im Falle einer begehrten gerichtlichen Beiziehung medizinischer Behandlungsunterlagen nicht tangiert sein, so dass hieran auch die Durchsetzung einer Datenauskunft nach Art. 15 DS-GVO über den Weg des § 142 ZPO scheitern dürfte. Die insoweit generelle Unstatthaftigkeit der sofortigen Beschwerde gegen die Ablehnung einer Anordnung nach § 142 ZPO dürfte daher auch aus Sicht der Verfasser weder gegen Art. 8 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union noch gegen sonstiges den Schutz persönlicher Daten intendiertes Europarecht verstoßen. Mit Beschluss vom 15.05.2019 stellte der 5. Zivilsenat des OLG Köln7 überdies bereits fest, dass auch die gerichtliche Auflage gegenüber dem Antragsteller in einem selbständigen Beweisverfahren, die Behandlungsunterlagen zur Gerichtsakte zu reichen, grundsätzlich nicht anfechtbar sei, auch wenn die Beauftragung des Sachverständigen von der Erfüllung dieser Auflage abhängig gemacht werde.

 

Im Ausnahmefall bejaht der Kölner Senat in seiner Entscheidung vom 20.04.2020 über eine analoge Anwendung von § 252 ZPO iVm § 567 Abs. 1 Nr. 1 ZPO die Beschwerdefähigkeit dann, wenn durch die angegriffene Anordnung faktisch ein Verfahren zum Stillstand gebracht werde oder Grundrechte des Antragstellers verletzt würden, soweit dies durch eine Anfechtung der Hauptsacheentscheidung nicht mehr behoben werden könne. Ein faktischer Stillstand sei jedoch erst anzunehmen, wenn es dem Antragsteller unmöglich oder unzumutbar sei, die ihm durch ein Gericht gesetzte Auflage zu erfüllen. Insoweit hat der Senat in seiner Entscheidung vom 15.05.2019 angedeutet, Unzumutbarkeit könne gegeben sein, wenn sich die gegnerische Behandlerseite weigert, den Anspruch aus § 630g BGB freiwillig zu erfüllen und den Antragsteller auf eine gerichtliche Durchsetzung verweist. Für einen solchen Fall neige der Kölner Senat dazu, eine Beschwerde gegen die Beiziehungsablehnung analog § 252 ZPO für statthaft zu erachten, da es dem Antragsteller in diesem Fall nicht zuzumuten sei, zunächst einen Rechtsstreit bzgl. der Herausgabe der Unterlagen zu führen. Dies würde - so das OLG Köln - auch dem Zweck des Beweisverfahrens widersprechen, für eine möglichst rasche Klärung der Beweisfrage(n) zu sorgen. Diese Argumentation überzeugt.

 

III) Gesetzgeberische Intention des selbständigen Beweisverfahrens nach § 485 Abs. 2 ZPO

 

Für die noch immer höchst umstrittene Frage der Anwendbarkeit der §§ 142, 144, 421 ff. ZPO auch im selbständigen Beweisverfahren hat zunächst eine kurze Beleuchtung der gesetzgeberischen Intention des § 485 Abs. 2 ZPO8 zu erfolgen. Sinn und Zweck der Regelung des § 485 Abs. 2 ZPO ist, durch die vorprozessuale Beweissicherung die Gerichte gerade in den Fällen, in welchen der Streit der Parteien nur von der Entscheidung tatsächlicher Fragen abhängt, von Prozessen zu entlasten und die Parteien unter Vermeidung eines Rechtsstreits zu einer raschen und kostensparenden Einigung zu bringen. Bezogen auf Arzthaftungsbeweisverfahren ist es aus Sicht der Verfasser zur Gewährleistung einer umfassenden medizinischen Sachverständigenbegutachtung unabdingbar, dass dem Sachverständigen die vollständige Behandlungs- und Pflegedokumentation sowie das vollständige Bildmaterial - und zwar jeweils im Original - inklusive aller Behandlungsverträge und -abrechnungen in Kopie vorliegen. Nur dann kann aus der sachverständigen Begutachtung im OH-Verfahren ein aussagekräftiges medizinisches Sachverständigengutachten resultieren, und sodann die ernsthafte Möglichkeit bestehen, die Parteien unter Vermeidung eines Rechtsstreits zu einer gütlichen Einigung zu bringen und damit die Gerichte zu entlasten.9

 

IV) Richterliche Vorlageanordnung im selbständigen Beweisverfahren unter Ausübung des Beiziehungsermessens

 

Zur richterlichen Vorlageanordnung im selbständigen Arzthaftungsbeweisverfahren finden sich heute in Rechtsprechung10 und Literatur11 „starke“ Befürworter. So stellt das OLG Nürnberg in seinem Beschluss vom 14.03.201712 fest, dass jedenfalls in Arzthaftungssachen die Anordnung der Vorlage der Behandlungsunterlagen zur Vorbereitung der Begutachtung durch einen medizinischen Sachverständigen zulässig und sogar „geboten“ sei. Denn nur wenn dem Sachverständigen auch die Behandlungsunterlagen zur Verfügung stehen, könne ernsthaft damit gerechnet werden, dass das Ergebnis der Begutachtung die Entscheidung der Parteien über die Durchführung eines Hauptsacheverfahrens beeinflussen kann. In Arzthaftungssachen habe das Gericht daher sein Anordnungsermessen hinsichtlich der Vorlage von Behandlungsunterlagen regelmäßig dahingehend auszuüben, dass die Vorlage angeordnet werde. Im selbständigen Beweisverfahren könne nichts anderes gelten.13

Der 5. Zivilsenat des OLG Köln vertritt in seinem Beschluss vom 20.04.2020 eine vermittelnde Ansicht14 und bejaht (jedenfalls) die Möglichkeit der Ausübung richterlichen Ermessens im Hinblick auf die Beiziehung von Behandlungsunterlagen nach § 142 ZPO, verneint indes15 ausdrücklich eine Verpflichtung zur gerichtlichen Beiziehung, wobei der Senat in seiner Entscheidung vom 15.05.2019 auch konstatiert, dass die begehrte Beweiserhebung nur dann sinnvoll durchgeführt werden könne, wenn dem Sachverständigen zur Begutachtung die Behandlungsunterlagen der gegnerischen Behandlerseite und tunlichst auch die der Vor- und Nachbehandler zur Verfügung stünden.

Der BGH hat sich in seiner Entscheidung vom 29.11.201616 bislang lediglich dahingehend geäußert, dass das Gericht nach § 142 ZPO anordnen kann, dass eine Partei oder ein Dritter die in ihrem oder seinem Besitz befindlichen Urkunden und sonstigen Unterlagen, auf die sich eine Partei bezogen hat, vorlegt. Die Anordnung ergehe nach dem eindeutigen Wortlaut der Vorschrift von Amts wegen und stehe im Ermessen des Gerichts. Zu Recht weist der BGH darauf hin, dass das Gericht die Urkundenvorlegung nach § 142 ZPO nicht zum bloßen Zweck der Informationsgewinnung, sondern nur bei Vorliegen eines schlüssigen, auf konkrete Tatsachen bezogenen Vortrags der Partei anordnen darf.17 Liefert die Antragsschrift mithin ausreichend substantiierten Vortrag zum Behandlungsfehlergeschehen18, so führt das richterliche Ermessen denknotwendigerweise zur richterlichen Anordnung der Beiziehung der Originalbehandlungsunterlagen.

 

In der Praxis wird jedoch die Entscheidung des BGH vom 29.11.2016 von den Instanzgerichten leider oft „plakativ“ missverstanden, so dass die Erstgerichte stattdessen - auch bei Vorliegen eines schlüssigen, auf konkrete Tatsachen bezogenen Vortrags der Partei - eine Vorlageanordnung im selbständigen Beweisverfahren kategorisch (und ohne Prüfung des Einzelfalls) ablehnen,19 was aus Sicht der Verfasser weder mit der vorgenannten BGH-Entscheidung noch mit der Intention des Gesetzgebers zu § 485 Abs. 2 ZPO20 in Einklang zu bringen sein dürfte.21

Um der gesetzgeberischen Intention des § 485 Abs. 2 ZPO zu maximaler Geltung und Wirkung zu verhelfen, ist gerade in Fällen des Vorliegens eines schlüssigen, auf konkrete Tatsachen bezogenen Vortrags des Antragstellers (analog einer Klagebegründung) eine Beiziehungsanordnung in OH-Verfahren hinsichtlich medizinischer (Original-)Behandlungsunterlagen aus Sicht der Verfasser stets geboten. In seiner ablehnenden und pragmatisch orientierten Anm. zum Beschluss des LG Aachen vom 16.01.2019 befürwortet auch Riemer22 die Anwendbarkeit des § 142 ZPO im Arzthaftungsbeweisverfahren; insbesondere dann, wenn das Beweismittel (hier die Behandlungsdokumentation) z.B. verlustig zu gehen drohe oder der Patient die berechtigte Besorgnis habe, dass die Dokumentation nachträglich abgeändert werden könnte. Eine Zurückweisung des Beiziehungsantrags - so Riemer - sei dann nach § 567 Abs. 1 Nr. 2 ZPO beschwerdefähig.

 

V) Höchstrichterlich noch zu klärende Fragen bzgl. der Beiziehungsanordnung im OH-Verfahren

 

Die bisherige BGH-Rechtsprechung hinsichtlich der Beiziehungsanordnung im OH-Verfahren lässt mithin einige Anwendungsfragen offen.

Nicht auseinandergesetzt hat sich der BGH in seiner Entscheidung vom 29.11.2016 mit der in Arzthaftungsbeweisverfahren wichtigen Besonderheit, dass der geschädigte Patient nach § 630g Abs. 2 BGB von seinen Behandlern nämlich lediglich Abschriften seiner Patientenakte verlangen kann, er selbst mithin nur solche Abschriften in das selbständige Beweisverfahren einführen kann. Dies, obwohl es bei der gutachterlichen Begutachtung von Arzthaftungsfällen regelmäßig auf die Prüfung der Originalbehandlungsunterlagen und -bilder ankommt.23 Da dem Patienten gesetzlich aber nur ein Herausgabeanspruch hinsichtlich Kopien und Abschriften seiner Patientenakte zusteht, kann er diese Originalunterlagen gerade nicht selbst beschaffen, er benötigt hier die Unterstützung des Gerichts24.

Ferner hat sich der BGH bislang nicht klar dazu geäußert, ob das Gericht in Arzthaftungsbeweisverfahren im Falle einer schlüssigen und substantiierten Antragsschrift sein Anordnungsermessen nach § 142 ZPO in der Regel dahingehend auszuüben hat, dass eine Beiziehung der Behandlungsunterlagen im Original anzuordnen ist.

Schließlich ist bislang höchstrichterlich ungeklärt, inwieweit zum Zwecke einer aussagekräftigen medizinischen Begutachtung sowie im Hinblick auf die Intention des Gesetzgebers zu § 485 Abs. 2 ZPO eine Vorlageanordnung im selbständigen Arzthaftungsbeweisverfahren auch gegenüber den jeweiligen Vor- und Nachbehandlern erfolgen darf bzw. muss.25

 

VI) Fazit

 

Aktuell herrscht hinsichtlich der §§ 142, 144, 421 ff. ZPO eine in OH-Verfahren bundesweit uneinheitliche Anwendungspraxis. Es hängt von der reinen Zufälligkeit der Geschäftsverteilung ab, ob ein Gericht in einem OH-Verfahren von den Vorschriften der §§ 142, 144, 421 ff. ZPO Gebrauch macht und damit die rechtsschutzsuchende Patientenseite in den Genuss einer richterlichen Beiziehungsanordnung kommt.26 Eine Kontrolle ist insoweit nicht eröffnet. Diese unbefriedigende Situation bedarf aus Sicht der Verfasser zwingend einer nochmals klarstellenden höchstrichterlichen Klärung.27

Es bleibt mithin abzuwarten, ob und wie sich der BGH (nochmals) zu der noch immer höchst strittigen Kernfrage der richterlichen Beiziehung medizinischer Behandlungsunterlagen im Rahmen eines selbständigen Arzthaftungsbeweisverfahrens, mithin zur Frage der direkten oder analogen Anwendbarkeit der §§ 142, 144, 421 ff. ZPO - mit Blick auf die noch offenen Anwendungsfragen - positionieren wird. Aus Sicht der Verfasser wäre eine höchstrichterliche Leitentscheidung - wenn auch nur in Form eines bloßen „obiter dictums“ - zur Gewährleistung einer einheitlichen Rechtsanwendungspraxis sehr zu begrüßen.

 

Fußnoten

 

1 vgl. hierzu Graf/Johannes, VersR 2019, 1054; Graf/Werner, VersR 2017, 913.

2 Greiner in Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, 7. Aufl. 2014, E. Prozessuale Grundsätze Rn. 3 ff.

3 BT-Drucksache 11/3621, S. 23.

4 BGHZ 173, 23 = VersR 2017, 908.

5 Hingewiesen sei indes etwa auf den Beschluss des OLG Düsseldorf vom 30.01.2014 (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 30.01.2014, Az. I-5 W 84/13 = BeckRS 2014, 8408) sowie Stadler (Stadler in Musielak/Voit, ZPO, 12. Aufl. 2015, § 142 Rn. 13), welche die Beschwerdefähigkeit einer solchen Ablehnung nach § 567 Abs. 1 Nr. 2 ZPO bislang bejahten.

6 sollte Art. 15 DS-GVO überhaupt der Vorschrift des § 142 ZPO unterfallen, was auch aus Sicht der Verfasser als zweifelhaft erscheint.

7 OLG Köln, Beschl. v. 15.05.2019, Az. 5 W 3/19 mit Anm. v. Walter in MedR 2020, 285.

8 BT-Drucksache 11/3621, S. 23.

9 so auch etwa OLG Hamm, Beschl. v. 09.07.2019, Az. I-26 W 8/19 mit Anm. v. Graf/Johannes in MedR 2020, 40; OLG Nürnberg, Beschl. v. 14.03.2017, Az. 5 W 1043/16 mit Anm. v. Graf/Werner in VersR 2017, 969.

10 vgl. etwa OLG Hamm v. 09.07.2019, Az. I-26 W 8/19 mit Anm. v. Graf/Johannes in MedR 2020, 40; OLG Nürnberg v. 14.03.2017, Az. 5 W 1043/16 mit Anm. v. Graf/Werner in VersR 2017, 969; OLG Düsseldorf v. 30.01.2014, Az. I-5 W 84/13 = BeckRS 2014, 8408; KG v. 10.04.2013, Az. 9 W 94/12 = NJW 2014, 85; OLG Frankfurt/M. v. 06.02.2003, Az. 12 W 12/03 = BeckRS 2013, 18862; LG Frankfurt/M. v. 04.09.2018, Az. 2-04 OH 5/18; LG Stralsund v. 10.07.2018, Az. 7a OH 2/18; LG Hamburg v. 05.04.2018, Az. 303 OH 4/17; LG Neuruppin v. 07.03.2018, Az. 32 OH 3/17; LG Aachen, Beschl. v. 03.08.2018 – 11 OH 6/18; LG Gera v. 22.04.2016 – 2 OH 12/16; LG Freiburg v. 19.05.2016 – 1 OH 8/16; LG Mainz v. 04.07.2016 – 2 OH 25/15; LG Konstanz v. 27. 6. 2016 – B 6 OH 9/15; LG Frankfurt/M. v. 04.03.2016 – 2-04 OH 2/16 und v. 02.02.2016 – 2-04 OH 12/15; LG Baden-Baden v. 13.10.2015 – 4 OH 3/15 und v. 13.01.2016 – 3 OH 14/15.

11 vgl. etwa Bergmann in Bergmann/Pauge/Steinmeyer, Gesamtes Medizinrecht 2. Aufl. 2014 BGB § 630g Rn. 2 f.; Huber in Musielak/Voit, ZPO 12. Aufl. 2015, § 492 Rn. 1; Ulrich in Prütting/Gehrlein, ZPO-Kommentar, 8. Aufl. 2016, § 491 Rn. 2; Bünnigmann in Baumbach/Lauterbach/Hartmann/Anders/Gehle, ZPO, 78. Aufl. 2020, § 142 Rn. 3; Martis/Winkhart-Martis, Arzthaftungsrecht 5. Aufl. 2018, Rn. B 523 S. 630; Leipold in Stein/Jonas, ZPO, 22. Aufl. 2008 § 492 Rn. 11; Rinke/Balser, MedR 1999, 398; Riemer, MedR 2019, 481 mit Anm. zu LG Aachen v. 16.01.2019, Az. 11 OH 6/18.

12 OLG Nürnberg, Beschl. v. 14.03.2017, Az. 5 W 1043/16 mit Anm. v. Graf/Werner in VersR 2017, 969.

13 Das OLG Hamm vertritt in seinem Beschluss vom 09.07.2019 (OLG Hamm, Beschl. v. 09.07.2019, Az. I-26 W 8/19 mit Anm. v. Graf/Johannes in MedR 2020, 40.) die Auffassung, die Vorlagepflicht ergebe sich im Rahmen der durchzuführenden Beweisaufnahme aus den Vorschriften der §§ 421 ff. ZPO und lasse sich gerade mit dem Sinn und Zweck des Beweisverfahrens in Einklang bringen. Denn - so das OLG Hamm - die stetig erfolgte Ausweitung dieses zivilprozessual zur Verfügung stehenden Verfahrens ergebe überhaupt nur dann Sinn, wenn der Sachverständige auch die notwendigen Grundlagen, also die (Original-)Behandlungsunterlagen, zur Verfügung habe.

14 so etwa auch KG, Beschl. v. 10.04.2013, Az. 9 W 94/12 = NJW 2014, 85.

15 unter Hinweis auf seinen Beschluss vom 15.05.2019 (OLG Köln, Beschl. v. 15.05.2019, Az. 5 W 3/19 mit Anm. v. Walter in MedR 2020, 285).

16 BGHZ 173, 23 = VersR 2017, 908.

17 Dem BGH ist zuzustimmen, denn freilich bedarf es für die richterliche Ermessensausübung eines ausreichenden Behandlungsfehlervortrags in der Antragsschrift; vgl. auch Boeckh in Saenger/Ullrich/Siebert, ZPO 4. Aufl. 2019, § 142 Rn. 2 f..

18 An die Substantiierungspflicht des Patienten dürfen im Arzthaftungsprozess hinsichtlich des medizinischen Sachverhalts nur maßvoll und verständig geringe Anforderungen gestellt werden. Die Partei darf sich auf Vortrag beschränken, der die Vermutung eines fehlerhaften Verhaltens des Arztes aufgrund der Folgen für den Patienten gestattet (BGH VersR 2004, 1177); vgl. auch Stadler in Musielak/Voit, ZPO 12. Aufl. 2015, § 142 Rn. 1..

19 zum Streitstand vgl. Graf/Werner VersR 2017, 913; vgl. auch Riemer, MedR 2019, 481 mit Anm. zu LG Aachen v. 16.01.2019, Az. 11 OH 6/18.

20 BT-Drucksache 11/3621, S. 23.

21 Denn eine pauschale Nichtanwendung des § 142 ZPO in Arzthaftungsbeweisverfahren würde regelmäßig zu „mangelbehafteten“ Gutachtenergebnissen führen, welche dann der gütlichen Lösung im OH-Verfahren unnötig „Steine in den Weg“ legen und erst im Hauptsacheverfahren durch eine Beiziehung der (Original-)Behandlungsunterlagen nachgebessert werden müssten.

22 Riemer, MedR 2019, 481 mit Anm. zu LG Aachen v. 16.01.2019, Az. 11 OH 6/18.

23 Denn der medizinische Sachverständige kann meist nur aus der Originaldokumentation (im Hinblick auf die Lesbarkeit, die Art und Weise der Dokumentation, Dokumentationsmängel, Kurven, ärztliche Farbcodes etc.) richtige Erkenntnisse erlangen. Überdies lässt sich der Vorschrift des § 419 ZPO entnehmen, dass Mängel in einer Urkunde wie bspw. Durchstreichungen, Veränderungen und Radierungen etc. die Beweiskraft der Behandlungsdokumentation mindern oder aufheben können; solche Mängel treten im Prozess aber meist nur durch die Vorlage und Prüfung der ärztlichen Originaldokumentation zu Tage.

24 Greiner weist explizit darauf hin, dass im Arzthaftungsrecht das Gericht zur Wahrung der „Waffengleichheit" aktiv die unterlegene Patientenseite zu unterstützen hat, vgl. Greiner in Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, 7. Aufl. 2014, E. Prozessuale Grundsätze Rn. 1; vgl. auch Graf/Werner, VersR 2017, 913.

25 vgl. hierzu OLG Hamm, Beschl. v. 09.07.2019, Az. I-26 W 8/19 mit Anm. v. Graf/Johannes in MedR 2020, 40, wonach im selbständigen Beweisverfahren keinesfalls eine Verpflichtung Dritter besteht, die entsprechenden Unterlagen vorzulegen.

26 (mit der Folge des Vorliegens eines aussagekräftigen Sachverständigengutachtens und der sodann ernsthaften Möglichkeit der Vermeidung eines Rechtsstreits bzw. einer raschen und kostensparenden Einigung).

27 vgl. hierzu Riemer, MedR 2019, 481 = Anm. zu LG Aachen, Beschl. v. 16.01.2019 - 11 OH 6/18.

 

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