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Anmerkung von RA Michael Graf zu BVerfG vom 07.04.2022 (1 BvR 1187/19)

A. Problemstellung

 

Die Entscheidung des BVerfG (1 BvR 1187/19) befasst sich zum einen mit verfassungsrechtlichen Problemen (Beschwerdebefugnis des Erben des verstorbenen Patienten: Die Verfassungsbeschwerde müsse der Durchsetzung eigener Rechte dienen; die Geltendmachung höchstpersönlicher Rechte sei auch im Fall des Todes nicht durch Dritte möglich), zum anderen mit medizinrechtlichen Problemen (insbesondere Arzthaftungsfragen zu §§ 280, 823 BGB: Aufklärungs-/Behandlungsfehler wegen lebenserhaltender Maßnahme gegen den Patientenwillen); desweiteren schlägt dies auch auf andere Rechtsgebiete durch, bspw. auf das Rechtsschutzversicherungsrecht (insbesondere bei der Frage der hinreichenden Erfolgsaussichten einer Rechtsdurchsetzung der Erben zu §§ 125, 128 VVG).

 

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

 

Ausgangspunkt der Verfassungsbeschwerde ist ein arzthaftungsrechtlicher Streit um die Behandlung eines dementen Schmerzpatienten, dessen Sohn die Behandlung des Vaters zu beenden versuchte, was ihm nicht gelang. Der Beschwerdeführer ist der in den USA lebende Sohn des im November 2011 verstorbenen Patienten und dessen Alleinerbe. Sein Vater stand von 1997 bis zu seinem Tod unter Betreuung; seit 2006 lebte der Vater in einem Pflegeheim. Der Vater wurde seit September 2006 bis zu seinem Tod mittels einer PEG-Magensonde künstlich ernährt. Sein Hausarzt betreute ihn seit dem Frühjahr 2007. Bereits im Jahr 2003 war beim Vater eine Demenz weit fortgeschritten und wegen einer mutistischen Störung war eine Kommunikation mit dem Patienten nahezu unmöglich. Seit November 2008 bis zu seinem Tod erhielt der Vater durchgängig Schmerzmittel. Im streitgegenständlichen Zeitraum im Jahr 2011 hatte der Vater regelmäßig Fieber, Atembeschwerden und wiederkehrende Druckgeschwüre; viermal erlitt er eine Lungenentzündung. Ende Mai bis Mitte Juni 2011 wurde der Vater wegen einer Gallenblasenentzündung stationär behandelt, aber aufgrund des schlechten Allgemeinzustandes keine operative Therapie durchgeführt. Am 8. Oktober 2011 wurde der Vater wegen einer Aspirationspneumonie erneut stationär aufgenommen, auf eine intensivmedizinische Behandlung aber verzichtet. Am 19. Oktober 2011 verstarb der Vater im Krankenhaus.

 

Der verstorbene Vater hatte weder eine Patientenverfügung errichtet noch ließ sich sein Wille zum Einsatz lebenserhaltender Maßnahmen anderweitig feststellen.

 

Der Sohn machte als Alleinerbe seines am 19. Oktober 2011 verstorbenen Vaters gegen den beklagten Hausarzt Ansprüche auf materiellen und immateriellen Schadensersatz im Zusammenhang mit der künstlichen Ernährung des Patienten in den Jahren 2010 und 2011 geltend. Er ist der Auffassung, der Beklagte hafte für die durch die künstliche Ernährung bedingte sinnlose Verlängerung des krankheitsbedingten Leidens des Patienten. Der Sohn behauptet unter anderem, die Sondenernährung sei spätestens ab Anfang 2010 weder medizinisch indiziert noch durch einen feststellbaren Patientenwillen gerechtfertigt gewesen; vielmehr habe sie ausschließlich zu einer sinnlosen Verlängerung des krankheitsbedingten Leidens des Patienten ohne Aussicht auf Besserung des gesundheitlichen Zustands geführt. Hierdurch seien der Körper und das Persönlichkeitsrecht des Patienten verletzt worden. Deshalb stehe dem Sohn aus ererbtem Recht ein Anspruch auf Schmerzensgeld zu. Zudem habe er einen Anspruch auf Ersatz der im streitgegenständlichen Zeitraum entstandenen Behandlungs- und Pflegeaufwendungen i.H.v. 52.952,00 Euro, die ohne die Behandlung nicht entstanden wären. Das LG München I (BeckRS 2017, 112362) hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Sohnes hat das OLG München (MedR 2018, 317) diesem ein Schmerzensgeld i.H.v. 40.000 Euro zugesprochen und die Abweisung der weitergehenden Klage bestätigt. 

 

Zur Begründung seiner Entscheidung hat das OLG München (MedR 2018, 317) ausgeführt, der Beklagte Hausarzt sei im Rahmen seiner Aufklärungspflicht gehalten gewesen, mit dem Betreuer die Frage der Fortsetzung oder Beendigung der Sondenernährung eingehend zu erörtern, was er unterlassen habe. Die aus dieser Pflichtverletzung möglicherweise resultierende Lebens- und gleichzeitig Leidensverlängerung des Patienten stelle einen ersatzfähigen Schaden dar. Es stelle sich die Frage, ob das (Weiter-)Leben, wenn auch unter schweren gesundheitlichen Beeinträchtigungen und Leiden, gegenüber dem Tod bzw. der Nichtexistenz einen Schaden im Rechtssinn darstellen könne. Dies sei im vorliegenden Fall zu bejahen. Wenn nach Beweislastregeln im Rahmen der Kausalität zu unterstellen sei, dass der Betreuer den Patienten hätte sterben lassen, weil der Tod für ihn eine Erlösung gewesen wäre, müsse dies auch schadensrechtlich so gesehen werden. Es würde zudem einen Wertungswiderspruch darstellen, wenn man einerseits die Beibehaltung einer Magensonde als fortdauernden einwilligungsbedürftigen Eingriff in die körperliche Integrität ansehe und andererseits diesem Sachverhalt eine schadensbegründende Qualität von vornherein abspräche. Bereits die Verletzung des Integritätsinteresses des Patienten, dem ohne wirksame Einwilligung über einen längeren Zeitraum mittels einer Magensonde Nahrung verabreicht worden sei, rechtfertige für sich betrachtet ein Schmerzensgeld. Erschwerend komme hinzu, dass der Patient über einen Zeitraum von 21 Monaten bis zum Eintritt seines Todes massive gesundheitliche Beeinträchtigungen habe durchleiden müssen. Der Beklagte sei zwar nicht für den schlechten Gesundheitszustand des Patienten verantwortlich, wohl aber dafür, dass der Patient in diesem Zustand weitergelebt habe und habe leben müssen.

 

Die vom Berufungsgericht zugelassene Revision des Beklagten hatte Erfolg; die (Anschluss-)Revision des Klägers hatte keinen Erfolg, der BGH kam zu folgenden zwei Kernergebnissen (BGH NJW 2019, 1741): (1.) Das menschliche Leben ist ein höchstrangiges Rechtsgut und absolut erhaltungswürdig. Das Urteil über seinen Wert steht keinem Dritten zu. Deshalb verbietet es sich, das Leben – auch ein leidensbehaftetes Weiterleben – als Schaden anzusehen. Aus dem durch lebenserhaltende Maßnahmen ermöglichten Weiterleben eines Patienten lässt sich daher ein Anspruch auf Zahlung von Schmerzensgeld nicht herleiten. (2.) Schutzzweck etwaiger Aufklärungs- und Behandlungspflichten im Zusammenhang mit lebenserhaltenden Maßnahmen ist es nicht, wirtschaftliche Belastungen, die mit dem Weiterleben und den dem Leben anhaftenden krankheitsbedingten Leiden verbunden sind, zu verhindern. Insbesondere dienen diese Pflichten nicht dazu, den Erben das Vermögen des Patienten möglichst ungeschmälert zu erhalten.

 

Auf die Revision des beklagten Arztes hob der Bundesgerichtshof das Urteil des Oberlandesgerichts also auf und wies die Berufung des Beschwerdeführers gegen das landgerichtliche Urteil sowie dessen Anschlussrevision zurück. 

 

Der Sohn rügt mit der Verfassungsbeschwerde die Verletzung von Rechten seines Vaters und eigener Rechte. 

 

C. Kontext der Entscheidung

 

Im (1.) medizinrechtlichen und (2.) versicherungsrechtlichen Kontext ist das Urteil des BVerfG (1 BvR 1187/19) praxisrelevant.

 

1. Bedeutung im Medizinrecht: Mögliche Arzthaftung wegen lebenserhaltender Maßnahme gegen den Patientenwillen

 

Für die ärztliche Behandlung eines Menschen am Ende seines Lebens gilt dasselbe wie für jede andere Behandlung. Rechte und Pflichten des Arztes zur Behandlung ergeben sich primär aus dem Behandlungsvertrag mit dem Patienten (§ 630a BGB). Der Behandlungsvertrag bildet die notwendige Grundlage für eine ärztliche Behandlung und legt insbesondere das Behandlungsziel fest. Dies reicht aber als Legitimation für die Vielzahl der im Rahmen der Behandlung notwendigen ärztlichen Maßnahmen nicht aus. Die einzelnen ärztlichen Maßnahmen müssen jeweils zur Erreichung des Behandlungsziels medizinisch indiziert sein (vgl. § 1901b Abs. 1 S. 1 BGB), von der Einwilligung des aufgeklärten Patienten getragen (§ 630d Abs. 1 S. 1 BGB) und lege artis durchgeführt werden (§ 630a Abs. 2 BGB), vgl. Laufs/Katzenmeier/Lipp ArztR, 8. Aufl., VI. Rechtsfragen der Transplantation, Transfusion, Sektion und der Intensivmedizin Rn. 93.

 

a. Behandlungsfehler: Behandlungsabbruch oder Weiterbehandlung?

 

Fehler bei Beendigung der Behandlung (Behandlungsabbruch) werden im Schrifttum bislang nicht erkennbar als solche erörtert, sind aber gleichwohl vorstellbar.

 

Ein Arzt, der die Behandlung des Patienten gegen dessen Willen beendet (§§ 630 b, 627 Abs. 1 BGB), weil er keine vertretbare therapeutische Möglichkeit mehr sieht, handelt nicht rechtswidrig (§ 627 Abs. 1 BGB). Er darf lediglich die Behandlung nicht zur Unzeit beenden (OLG Naumburg MedR 2019, 893). Bei Lebensgefahr für den Patienten ist ein Abbruch der Behandlung nur mit Einwilligung des umfassend aufgeklärten Patienten keine vertrags- und rechtswidrige Schädigung. Ist der Patient nicht (mehr) einwilligungsfähig, ist der bestellte Betreuer für die Einwilligung zuständig (BGH, Beschl. v. 17. 9. 2014 – XII ZB 202/13 – BGHZ 202, 226 = NJW 2014, 3572 und BGH NJW 2010, 2963, 2011, 161).

 

Umgekehrt hat der BGH nunmehr in der oben zitierten Entscheidung (BGH NJW 2019, 1741) ausgeführt, dass ein mit Leiden behaftetes Weiterleben des Patienten, das nicht erkennbar dem Willen des Patienten – etwa in einer Patientenverfügung – widerspricht, allein nicht als „Schaden“ anzusehen ist (Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) und ohne weitere Umstände kein Schmerzensgeld zu begründen vermag. Auch hier wird nicht das Integritätsinteresse des Patienten berührt, sondern im Gegenteil ein möglicher Wunsch nach einer anderen Integrität ohne Leiden, den der Patient zuvor nicht ausreichend geäußert hat, nicht berücksichtigt. Die Verhaltenspflichten des Arztes sind damit allerdings rechtlich nicht umgrenzt und es ist nach wie vor unklar, was bei einem nicht feststellbaren Willen des Patienten zum Leben oder zum Tode zu geschehen hat (Behandlungsabbruch oder Weiterbehandlung auf Kosten der GKV/PKV bzw. der Erben bis zum Tod?), vgl. m.w.N. Geiß/Greiner, ArzthaftpflichtR, 8. Auflage 2022, B. Haftung aus Behandlungsfehler Rn. 187a.

 

b. Patienteneinwilligung, Aufklärung und Abwehranspruch gegen lebensverlängernde Maßnahmen?

 

Der Patient kann die Behandlungsmaßnahme jederzeit ablehnen, also seine Einwilligung auch noch nach Beginn der Behandlung für die Zukunft widerrufen (§ 630d Abs. 3 BGB). Ein Verzicht auf den Widerruf (zB in einem Heimvertrag) ist wegen des Persönlichkeitsbezugs der Einwilligung ausgeschlossen. Lehnt der Patient die Behandlung ab, müssen Arzt, Pflegepersonal und Klinik bzw. Pflegeheim diesem Wunsch Folge leisten. Dabei kommt es nicht darauf an, ob sich die Entscheidung des Patienten in den Augen des Arztes (oder eines anderen) als vernünftig oder unvernünftig darstellt. Die Patientenautonomie ist damit nichts anderes als das Selbstbestimmungsrecht des Menschen über seine Person und über seine körperliche Integrität im Rahmen der ärztlichen Behandlung, vgl. Laufs/Katzenmeier/Lipp ArztR, 8. Aufl., VI. Rechtsfragen der Transplantation, Transfusion, Sektion und der Intensivmedizin Rn. 96.

 

Wenn eine neue Situation eine Änderung der Behandlung erfordert, dann sind eine neue Einwilligung und gegebenenfalls eine neue Aufklärung erforderlich, auf eine mutmaßliche Einwilligung kann ausschließlich dann abgestellt werden, wenn in Zwangslagen der Patient und sein gesetzlicher Vertreter für die Aufklärung und Zustimmung aus objektiven Gegebenheiten nicht erreichbar sind (– bewusstloser Patient/Notfall-Patient, nicht vorhersehbare intraoperative Notwendigkeit der Änderung oder Erweiterung des Eingriffs, evtl. auch bei Zeugen Jehovas –), vgl. m.w.N. Geiß/Greiner ArzthaftpflichtR, 8. Auflage 2022, C. Haftung aus Aufklärungsfehler Rn. 102.

 

Greiner entnimmt der Entscheidung des BGH (BGH NJW 2019, 1741 und BGH NJW 2014, 3572) für das Medizinschadensrecht, dass wenn der bekannte oder mutmaßliche Wille dahin geht, lebenserhaltende Maßnahmen zu unterlassen und so das Sterben zu ermöglichen, daraus sogar ein Abwehranspruch gegen lebensverlängernde Maßnahmen folge. Dann trete die Schutzpflicht des Staates für das Leben aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG hinter das Selbstbestimmungsrecht des Patienten zurück, selbst wenn ohne den Behandlungsabbruch noch eine Heilungs- oder Lebensperspektive bestanden hätte (Geiß/Greiner ArzthaftpflichtR, C. Haftung aus Aufklärungsfehler Rn. 102a).

 

Ulsenheimer postuliert hierauf für das Medizinstrafrecht, dann, wenn nicht nachgewiesen werden könne, dass die Einwilligung – nach korrekter Aufklärung – unterblieben wäre, nach den Beweisgrundsätzen des Strafrechts im Zweifel zugunsten des Arztes davon auszugehen ist, dass eine Einwilligung erteilt worden wäre – eine strafrechtliche Verurteilung nicht erfolgen könne. Anders - so Ulsenheimer - aber im Zivilrecht, in dem sich das Risiko, dass die Frage der (auch hypothetischen) Einwilligung nicht geklärt werden kann, zulasten des Beklagten auswirke (Ulsenheimer/Gaede ArztStrafR, 6. Aufl., Rn. 708).

 

c. BVerfG (1 BvR 1187/19) bejaht die Möglichkeit des Medizinschadens

 

Auch der Entscheidung des BVerfG (1 BvR 1187/19) kann nun entnommen werden, dass das ärztliche Unterlassen einer Beendigung der Behandlung durchaus zu Schadensersatzansprüchen auf Patientenseite führen könne:

 

Der Schutzauftrag des Staates zugunsten des Lebens ende dort, wo das Selbstbestimmungsrecht beginnt. Denn die Entscheidung, das eigene Leben zu beenden, sei von existentieller Bedeutung für die Persönlichkeit, Ausfluss des eigenen Selbstverständnisses und grundlegender Ausdruck der zu Selbstbestimmung und Eigenverantwortung fähigen Person. Die Schutzpflicht für das Leben erhält gegenüber dem Freiheitsrecht wiederum den Vorrang, wo Menschen Einflüssen ausgeliefert sind, die ihre Selbstbestimmung über das eigene Leben gefährden.

 

Durchaus möglich (aber nicht zwingend) sei es, dass ein Schadensersatzanspruch auf die Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts als Selbstbestimmungsrecht des Patienten gestützt werden könnte, wenn die lebenserhaltende Maßnahme gegen den Patientenwillen aufrechterhalten würde. Will der Patient tatsächlich selbstbestimmt sterben, tritt die Schutzpflicht des Staates für das Leben aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG hinter dem Selbstbestimmungsrecht zurück. Damit sei aber nicht gesagt, dass das Leben in jedem Fall absolut erhaltungswürdig sei. Es sei daher auch nicht von vornherein ausgeschlossen, dass eine lebenserhaltende Maßnahme, die gegen den Willen des Betroffenen durchgeführt wird, stets haftungsrechtliche Folgen haben kann. Zudem folge aus der Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts über den eigenen Tod nicht zwingend, immer und in jeder Hinsicht einen Schaden anzuerkennen, der zivilrechtlich geltend gemacht werden könnte. Selbst der Bundesgerichtshof habe es insbesondere nicht ausgeschlossen, die wirtschaftlichen Belastungen, die mit dem Leben verbunden sind, unter bestimmten Umständen als materiellen Schaden zu begreifen. 

 

So können Kosten für Pflege, Behandlung und Unterhalt ersatzpflichtig sein, wenn sie ohne eine lebensverlängernde Behandlung, Information oder Aufklärung, die sich als fehlerhaft erweisen, nicht entstanden wären.

 

2. Bedeutung im Versicherungsrecht: Hinreichende Erfolgsaussichten einer Rechtsdurchsetzung der Erben (§§ 125, 128 VVG)

 

In Fällen des ärztlichen Unterlassens eine Behandlungsabbruchs tauchen in der Praxis durchaus auch rechtsschutzversicherungsrechtliche Probleme für die Patientenseite auf. 

 

Der Rechtsschutzversicherer (VR) erbringt nach § 125 VVG und § 1 ARB 2010 die für die Interessenwahrnehmung „erforderlichen Leistungen“, hierzu gehört vor allem die sog. Deckungszusage. In solchen rechtlich problematischen Rechtskomplexen (wie bspw. Arzthaftung wegen lebenserhaltender Maßnahme gegen den Patientenwillen) kann der VR nach § 128 S. 1 VVG seine Leistungspflicht verneinen, wenn im dargelegten Einzelfall (Rechtsschutzfall) die Interessenwahrnehmung keine sog. "hinreichende Erfolgsaussicht" bietet, vgl. § 3a Abs. 1 ARB 2010 (im Folgenden werden die „Harbauer-ARB“ zitiert) auf.

 

Nach inzwischen ständiger Rspr. des BGH bemisst sich die hinreichende Aussicht auf Erfolg nach § 128 VVG nach den zu § 114 ZPO entwickelten Grundsätzen (Prölss/Martin/Piontek, 31. Aufl. 2021, ARB 2010 § 1 Rn. 8). In rechtlicher Hinsicht bedeutet die Auslegung des § 1 ARB 2010 im selben Sinne wie § 114 ZPO, dass der Standpunkt des VN nach den von ihm aufgestellten Behauptungen und den ihm bekannten Einwendungen des Gegners zumindest vertretbar und sein Tatsachenvortrag – soweit erforderlich – lediglich beweisbar sein muss. Darüber hinaus ist erforderlich, dass bloss eine gewisse Wahrscheinlichkeit eines Erfolgs besteht.

 

Begehrt der Versicherungsnehmer also Rechtsschutz für einen Arzthaftpflichtfall, so richtet sich der Umfang seiner Informationspflicht, die er dem Rechtsschutzversicherer gegenüber zu erfüllen hat, danach, welche Anforderungen an seine Darlegungs- und Substantiierungslast in dem geplanten Haftpflichtprozess zu stellen sind. An diese sind laut BGH aber nur maßvolle Anforderungen zu richten, weil von Patienten regelmäßig keine genaue Kenntnis bzgl. medizinischer Vorgänge gefordert und erwartet werden darf. Informationen und Nachweise, die über diese maßvollen Anforderungen hinausgehen, kann der Rechtsschutzversicherer deshalb auch nicht zur Prüfung der hinreichenden Erfolgsaussicht verlangen (Harbauer/Cornelius-Winkler, 9. Aufl. 2018, ARB 2010 § 17 Rn. 38).

 

Es muss zudem als möglich erscheinen, dass der VN den Beweis der von ihm zu beweisenden Tatsachen mit Hilfe zulässiger und geeigneter Beweismittel zu führen vermag. Eine Beurteilung der Beweischancen durch antizipierte Beweiswürdigung darf jedoch bei der Prüfung der Erfolgsaussichten grds. nicht stattfinden (Prölss/Martin/Piontek, 31. Aufl. 2021, ARB 2010 § 1 Rn. 9f.).

 

Der Entscheidung des BVerfG (1 BvR 1187/19) ist nun zu entnehmen, dass den Erben des Patienten, die sich auf eine rechtswidrige Weiterbehandlung und der Fortführung lebenserhaltender Maßnahme berufen, durchaus (je nach Einzelfall) Schadensersatzansprüche gegen den/die Behandler zustehen können.

 

Hieraus folgt, dass künftig die hinreichenden Erfolgsaussichten einer Rechtsdurchsetzung der Erben des verstorbenen Patienten vom VR künftig wohl nicht mehr (ohne weiteres) verneint werden können. 

 

In tatsächlicher Hinsicht besteht hier nämlich durchaus die Möglichkeit einer Beweisführung (BGH VersR 94, 1061 = NJW 94, 1161; OLG Köln MDR 87, 62). Bietet der VN in seinem Deckungsgesuch zulässige Beweismittel zur Klärung der Frage nach der Patienteneinwilligung (bzw. dem entgegenstehenden Patientenwillen?!) oder der Frage des medizinischen Standards im konkreten Einzelfall (lebenserhaltende Maßnahmen noch indiziert?!) an, wird die Möglichkeit einer Beweisführung in der Regel nicht zu bestreiten sein. 

 

Die Haftungsvoraussetzungen können dann (spätestens in einem Gerichtsverfahren) voll bewiesen werden durch gerichtliche Sachverständigengutachten, Einholung der Behandlungsunterlagen (§ 142 ZPO), sachverständiges Zeugnis der behandelnden Ärzte und/oder durch Zeugnis der Angehörigen.

 

Der VN ist zudem lediglich für die Voraussetzung des Versicherungsschutzes darlegungs- und beweisbelastet. Dies betrifft insbesondere (nur) das versicherte Wagnis und den Eintritt des Versicherungsfalles im versicherten Zeitraum. Auf die Erfolgsaussichten der von dem VN beabsichtigten Rechtsdurchsetzung kommt es aber für den Versicherungsschutz nicht an. Ebensowenig kommt es auf die Schlüssigkeit, Entscheidungserheblichkeit oder gar Beweisbarkeit an. Dies alles ist eine Frage des Ausschlusstatbestandes nach Ziff.  3.4 ARB 2012 (Clausen, Münchener Anwaltshandbuch Medizinrecht, 4. Aufl., Teil E. Vermögensschadensversicherungen § 27 Rechtsschutzversicherung Rn. 207).  

Auswirkungen für die Praxis

 

Liegt eine dauernde Einwilligungsunfähigkeit vor, diez.B.auf einer Geistesschwäche, auf seniler Demenz oder einer Arteriosklerose beruhen könnten, hat der Arzt Veranlassung, sich zunächst auf die Durchführung der dringend gebotenen (und dem mutmaßlichen Willen des Patienten entsprechende) Maßnahmen zu beschränken. Darüber hinaus sollte er sich darum bemühen, in Erfahrung zu bringen, ob ein Betreuer bestellt ist, ob der Patient eine Vorsorgevollmacht erteilt hat bzw. eine wirksame Patientenverfügung i.S.d. § 1901a Abs. 1 S. 1 BG B vorliegt (Terbille/Feifel, Münchener Anwaltshandbuch Medizinrecht, 3. Aufl., § 1 Zivilrechtliche Arzthaftung Rn. 433).

 

Liegt - wie im Fall der BVerfG (1 BvR 1187/19) - keine Patientenverfügung vor oder treffen die Festlegungen einer Patientenverfügung nicht auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation zu, hat der Betreuer gem. § 1901a Abs. 2 S. 1 BGB die Behandlungswünsche oder den mutmaßlichen Willen des Betreuten festzustellen und auf dieser Grundlage zu entscheiden, ob er in eine ärztliche Maßnahme nach Absatz 1 einwilligt oder sie untersagt. Der mutmaßliche Wille ist aufgrund konkreter Anhaltspunkte zu ermitteln. Zu berücksichtigen sind insbesondere frühere mündliche oder schriftliche Äußerungen, ethische oder religiöse Überzeugungen und sonstige persönliche Wertvorstellungen des Betreuten.

 

Der Abbruch einer lebenserhaltenden Maßnahme bedarf nicht der betreuungsgerichtlichen Genehmigung nach § 1904 Abs. 2 BGB, wenn der Betroffene einen entsprechenden eigenen Willen bereits in einer wirksamen Patientenverfügung (§ 1901a Abs. 1 BGB) niedergelegt hat und diese auf die konkret eingetretene Lebens- und Behandlungssituation zutrifft. In diesem Fall ist eine Einwilligung des Betreuers, die dem betreuungsgerichtlichen Genehmigungserfordernis unterfällt, in die Maßnahme nicht erforderlich, da der Betroffene diese Entscheidung selbst in einer alle Beteiligten bindenden Weise getroffen hat. 

 

Ist überhaupt nichts über die Präferenzen des Patienten bekannt, dürfen Vertreter und Arzt davon ausgehen, dass der Patient den ärztlich indizierten Maßnahmen zustimmen würde (Terbille/Feifel, Münchener Anwaltshandbuch Medizinrecht, 3. Aufl., § 1 Zivilrechtliche Arzthaftung Rn. 440 unter Hinweis auf BGH 17.3.2003 – XII ZB 2/03, NJW 2003, 1588).

 

Welche Konsequenzen die Entscheidungen des BVerfG (1 BvR 1187/19) und des BGH (NJW 2019, 1741) für das Medizinschadensrecht haben wird, bleibt abzuwarten.

 

Jedenfalls dürften solche (und ähnliche) Fälle hinreichende Erfolgsaussichten haben, so dass die Erben bei vermuteten Behandlungs-/Aufklärungsfehlern (ggf. nach Einholung des Kostenschutzes eines Rechtsschutzversicherers) den Rechtsweg bemühen können und dürfen, letztlich wird es dann auf den jeweiligen Einzelfall ankommen (wie so oft in der juristischen Praxis).

 

Der Verfasser schließt mit den Worten von Lipp, der eindrücklich postuliert: "Die rechtliche Grundstruktur der ärztlichen Behandlung missachtet, wer fragt, ob der Verzicht auf eine Behandlung oder der Abbruch einer einmal begonnenen Behandlung zulässig sei oder zwischen Lebensschutz und Selbstbestimmungsrecht abwägen möchte. Damit verkehrt man die Legitimationslast für eine ärztliche Behandlung in ihr Gegenteil. Denn nicht der Verzicht, sondern die Aufnahme der Behandlung, nicht ihr Abbruch, sondern ihre weitere Durchführung bedarf der Legitimation durch die ärztliche Indikation und die Einwilligung des Patienten. Behandelt der Arzt den Patienten, obwohl diese Voraussetzungen fehlen, begeht er eine Körperverletzung. Auch eine lebensverlängernde Maßnahme ist demnach nur zulässig, wenn und solange sie ärztlich indiziert ist und ihr der gehörig aufgeklärte Patient zustimmt. Mit diesen Grundnormen für die ärztliche Behandlung von schwerkranken und sterbenden Patienten wahrt das Medizinrecht die grund- und menschenrechtlichen Vorgaben, namentlich zum einen die staatliche Pflicht zum Schutz des Lebens und der Gesundheit des Patienten (Art. 2 Abs. 2 GG, Art. 2 EMRK) und zum anderen die Pflicht zur Achtung seiner Autonomie (Art. 2 Abs. 2 GG bzw. Art. 2 Abs. 1 iVm. Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 8 EMRK) und seiner Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG)", vgl. Laufs/Katzenmeier/Lipp ArztR, 8. Aufl., VI. Rechtsfragen der Transplantation, Transfusion, Sektion und der Intensivmedizin Rn. 97.

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Gabriela Johannes - Experte für Arzthaftung, Behandlungsfehler, Unfallversicherung und Berufsunfähigkeit in Freiburg, Karlsruhe und Offenburg.